„Oft ist der Schlüssel zum Erfolg die Übertragung der in den Unternehmen vorhandenen Kompetenzen auf neue Anwendungsgebiete. Die vorhandene technische Expertise ist extrem wichtig, um sich etwa mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz neue Geschäftsfelder zu erschließen. Neuerungen gelingen vor allem dann, wenn man Köpfen aus verschiedenen Disziplinen Raum gibt, gemeinsam kreativ zu werden.“
Prof. Dr. Matthias Willems, Präsident der Technischen Hochschule Mittelhessen (THM)
Verschriftlichtes aktiv-Interview, HESSENFORUM 2022, 11. Mai 2022
Die Technische Hochschule Mittelhessen: Talente. Technik. Zukunft
Herr Professor Willems, was ist aus Ihrer Sicht ausschlaggebend für den Unternehmenserfolg? Sind es neue Geschäftsmodelle, Technologieführerschaft oder Arbeitsorganisation?
Wir haben hier an der THM sehr gute und enge Kontakte zu den Unternehmen in Mittelhessen. Dabei stelle ich immer wieder fest: Innovationskraft und Technologieführerschaft allein reichen nicht aus für unternehmerischen Erfolg. Eine auf die unternehmerischen Ziele ausgerichtete Arbeitsorganisation darf nicht vernachlässigt werden. Insgesamt ist ein intelligenter Mix gefragt und auch die Bereitschaft, Gewohntes immer wieder zu überdenken. Manchmal fehlt es am Mut, Neues früh auszuprobieren, um Produkte schneller zur Marktreife zu führen. In den USA ist man viel experimentierfreudiger. Und dennoch sind viele mittelhessische Unternehmen im Hinblick auf die Digitalisierung schon sehr gut unterwegs – von „Predictive Maintenance“ beim Betrieb von Anlagen oder Maschinen bis zur Anwendung von Künstlicher Intelligenz.
Wie sehr denken Sie an der THM in neuen Geschäftsmodellen?
Wir haben unsere Hochschule unter das Motto „Talente. Technik. Zukunft.“ gestellt und richten alle Aktivitäten entsprechend aus. Das ist kein Selbstzweck, sondern wir wollen die Dinge innovativ vorantreiben – egal ob es um Wirtschaftswissenschaften, Bau- oder Umweltingenieurwesen geht, um Maschinenbau oder auch um Gesundheitstechnik. Wir verstehen uns nicht nur als reine Bildungseinrichtung, sondern vielmehr als Technologie- und Wirtschaftsqualifizierer. Wir sind einem permanenten Wandel unterworfen und reagieren darauf mit entsprechenden Angeboten. Neben dem reinen Lehrbetrieb gibt es jede Menge Unterstützung für junge Talente und „Macher“. Neben den Laboren entstehen Lernfabriken oder Makerspaces wie in Gießen und Friedberg. In diesen Hightech-Werkstätten bieten wir Raum zum gemeinsamen Denken und Ausprobieren – und sie stehen übrigens auch Ihren Mitgliedsunternehmen offen! Wir stellen Maschinen und Know-how zur Verfügung, damit Ideen lebendig werden können. Neuerungen gelingen aus meiner Sicht vor allem dann, wenn man Köpfen aus verschiedenen Disziplinen Raum gibt, gemeinsam kreativ zu werden. So haben sich bei uns schon viele tolle studentische Projekte mit interdisziplinärem Ansatz entwickelt.
Können Sie uns ein paar beispielhafte studentische Projekte mit interdisziplinärem Ansatz nennen?
Wir loben zum Beispiel Wettbewerbe aus, etwa den Ideencontest THM IDEECO. Und es finden sich immer Teams, die an nationalen und internationalen Robotik- oder Motorsport-Wettbewerben teilnehmen. Es gibt Stammtische, um Studierende mit Gründenden und Unternehmen zusammenzubringen und vieles mehr. Uns geht es darum, dass junge Leute neue Ideen generieren, sie ausprobieren und sich und das Projekt weiterentwickeln. Idealerweise ihr eigenes Start-Up gründen. Auch dabei gibt es von uns jede Menge Unterstützung. Inzwischen haben wir sogar einen eigenen Master-Studiengang „Future Skills und Innovation“ für dual Studierende sowie einen Masterstudiengang „Digital Business“.
Wo sehen Sie aktuell Technologieführerschaft in der hessischen Industrie, insbesondere in der Metall- und Elektroindustrie?
Viele Unternehmen, egal ob aus Maschinenbau-, Elektrotechnik-, Vakuumtechnik oder auch Optik-Industrie, sind schon in neuen Geschäftsfeldern unterwegs. Sie sind dabei, ihre Produkte mit den Möglichkeiten von Sensorik, Kameratechnik und Digitalisierung aufzurüsten. Vor allem Nischenspezialisten behaupten so ihre Technologieführerschaft. Und genau dabei unterstützen wir sie, etwa durch Projektarbeiten. Oft ist der Schlüssel zum Erfolg die Übertragung der in den Unternehmen vorhandenen Kompetenz auf neue Anwendungsgebiete. Die vorhandene technische Expertise ist extrem wichtig, um sich etwa mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz neue Geschäftsfelder zu erschließen. So unterstützten wir beispielsweise einen Verpackungsspezialisten. Dort muss für einen Kunden aus der Kosmetikindustrie Ware, etwa Lippenstifte, nach einem ganz bestimmten Muster in vorgefertigte Schachteln nach Farben einsortiert werden. Das gelingt inzwischen fehlerfrei dank einer kleinen KI und einem Kamerasystem. Beispiele dieser Art fallen mit zuhauf ein. Allein über das Duale Studium haben wir ein Netzwerk – fast könnte man sagen: Ökosystem – von knapp 1000 Unternehmen, die mit ihren Fragestellungen zu uns kommen. Manchmal sind wir dann der Ideengeber, manchmal setzen wir die Ideen aber auch einfach nur um oder entwickeln sie weiter. Bei allem denken wir sehr interdisziplinär. Dafür arbeiten wir auch mit der Justus-Liebig-Universität und der Uniklinik Gießen zusammen. In Kooperation mit Medizinern entwickelt zum Beispiel das Team CardioIQ eine KI, die zur Früherkennung von Krankheiten EKG-Daten auswertet.
Besonders freut uns, wenn sich aus Ideen ganz neue Anwendungen ergeben oder sogar neue Unternehmen. So hat gerade ein junges Studentenpaar ein Patent angemeldet und damit ein Unternehmen angestoßen. Ihr System BEBBS verhindert Schwelbrände durch das Überhitzen von Streckdosen, die Hauptursache für Hausbrände. Das System erkennt Brände in elektronischen Geräten selbsttätig, meldet die Gefahr via App, akustisch und auch visuell, und löscht den Brand bei ausbleibendem Eingreifen, bevor ein Feuerwehr-Einsatz nötig wird. 2021 gewannen sie damit – neben etlichen anderen Auszeichnungen – den Hessischen Gründerpreis, die höchste Auszeichnung für Gründungswillige in Hessen. Sowas macht mich ungeheuer stolz.
Welche Bedeutung hat aus Ihrer Sicht das Thema New Leadership? Welcher Mix der transaktionalen oder transformatorischen Arbeitsorganisation ist am erfolgreichsten?
Wir haben rund 1200 Beschäftigte und sind meines Wissens die einzige Hochschule, die Führungsgrundsätze formuliert und veröffentlicht hat. Sie sind eher transformatorisch als transaktional ausgerichtet. Für uns ist der kooperative Führungsstil wichtig für den Erfolg, denn man braucht ein Team, das nicht in Hierarchien denkt, sondern in Lösungen. Man sollte kontrovers diskutieren, aber am Ende muss jemand auch eine Entscheidung treffen, wenn es keinen Konsens gibt.